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[LebensWissen.org] Call for Abstracts: „The Many Faces of Biopolitics – Konstruktivistisch-kritische Perspektiven“, Einreichungsfrist: 01.04.2018

Im kommenden Jahr soll ein Sammelband zum Thema “The Many Faces of Biopolitics – Konstruktivistisch-kritische Perspektiven“ (Arbeitstitel) in der Reihe „Politologische Aufklärung – konstruktivistische Perspektiven“ (Springer VS) erscheinen. PolitikwissenschaftlerInnen und Forschende aus anderen Disziplinen werden dazu eingeladen, sich mit einem Originalartikel an der Publikation zu beteiligen. Zu folgenden vier Themenkomplexen sind Abstracts erwünscht:

  1. Die Biopolitik der life sciences und der Biomedizin
  2. Regierung der Lebensprozesse – Steuerung des Bevölkerungskörpers
  3. Das „bloße Leben“ im 21. Jahrhundert
  4. Theoretische Zugänge jenseits der Biopolitik im Anschluss an Michel Foucault.

Bis zum 01.04.2018 sollte ein Abstract (500-700 Wörter) für einen Originalbeitrag  eingehen an Helene.Gerhards@uni-due.de und K.Braun@ipw.uni-hannover.de. Die Herausgeberinnen bemühen sich um eine Rückmeldung innerhalb von zwei Wochen. Nach einer Zusage erbitten wir die fertigen Beiträge bis zum 01.07.2018.

Die Herausgeberinnen freuen sich auf Zusendungen von Abstracts!

1. Die Biopolitik der life sciences und der Biomedizin
Verwendete Michel Foucault den Begriff der Biopolitik vor allem, um die regulierende Kontrolle der Bevölkerung seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu beschreiben und damit darauf aufmerksam zu machen, wie ein neues Regierungsobjekt aus der Taufe gehoben wurde, an welches Fragen nach Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsraten, dem Gesundheitsniveau und anderen statistisch relevant gewordenen Ordnungsmustern einer Gesellschaft herangetragen werden konnten, dauerte es nicht lange bis zu einer gewissen Dekontextualisierung und dem Interesse daran, mit dem Begriff eine Heuristik für gegenwärtige Prozesse und Politiken des Zugriffs auf Leben zu schaffen. Damit ist „Biopolitik“ zu einem breit rezipierten politiktheoretisch-philosophisch-soziologischen Konzept geworden, um zeitgenössische Politiken des Lebens in den Fokus zu nehmen. Insbesondere werden Begriffe wie „Biomacht“ und „Biopolitik“ verwendet, um auf die wechselseitige Hervorbringung von sozialen Beziehungen, Strukturen und Lebensformen, Medizin und Biowissenschaft sowie politisch-rechtlichen Regulierungen und Ordnungsmustern hinzuweisen. ForscherInnen wie Thomas Lemke, Paul Rabinow, Nikolas Rose, Sheila Jasanoff u.a. haben in ihren theoretisch-diagnostischen Arbeiten starkes Augenmerk auf die wechselseitige Gestaltung und Durchdringung von Gesellschaft, Politik und life sciences und die Probleme der politischen Regulierung ebenjener gelegt. Als neues Feld der Biopolitik wurde vor allem die Biomedizin identifiziert, ein Feld, welchem als Mittler zwischen Naturwissenschaft und Medizin oft die Rolle eines Heilers und Innovators biologischen Lebens zugewiesen wird. Fragen, die aus unserer Sicht in diesem Bereich offengeblieben sind oder bereits nach neuen Antworten verlangen, beziehen sich vor allem auf das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, medizinischen Anwendungsdesideraten und ihren gesellschaftlichen Reflexionen und Instruktionen:

Inwiefern ist eine Neuaufarbeitung des Verhältnisses zwischen Medizin, Technik und Gesellschaft vonnöten? Wie hat sich der Lebensbegriff in den letzten Jahrzehnten verändert und welche Rolle spielen diese Veränderungen in den Lebenswissenschaften und ihrer politischen Rahmengestaltung?
Welche Stellung haben sogenannte Paradigmenwechsel in den life sciences (bspw. von dem ‚genetischen Determinismus‘ hin zur Postgenomik) und wie artikulieren sich diese möglichen Paradigmenwechsel auf gesellschaftlicher Ebene?
Wie wird Translationsversuchen in den life sciences und der Biomedizin (praktisch und diskursiv) der Weg geebnet? Welche gesellschaftlichen Herausforderungen bekommen Widerhall in den Forschungen der life sciences, in welchen Registern und Terminologien verhandeln sie Themen wie Überalterung, sinkende Vakzinationsraten, psychische Erkrankungen, medizinische Vorsorge? Welche gesellschaftlichen Herausforderungen und Bedarfe erscheinen aus welchen Gründen nicht in dem Spektrum der anwendungsbezogenen biomedizinischen Forschung?
Welche interessanten neuen Beispiele einer institutionenbezogenen biopolitischen Regulierung von life sciences sind zu beobachten, warum schlagen manche Regulierungsversuche fehl? Welche politischen und akteursbezogenen Interessen haben sich in neuen biopolitischen Konflikten herauskristallisiert, welche Form von Wissen wird für Aushandlungsprozesse relevant?
Wie laufen öffentliche Diskurse über z.B. synthetische Biologie, genetic engineering, Stammzellforschung, Reproduktionsmedizin ab? Werden Erwartungen an die Bevölkerung gestellt, sofern es um die Anwendungsfrage von biomedizinischer Forschung geht? Welche Chancen und Zumutungen für Subjekte ergeben sich und welche neuen Subjektkonstruktionen treten zutage?
Welche Herausforderungen, Perspektiven, Aufgaben und Chancen ergeben sich speziell für die Sozialwissenschaften? Oder sind life sciences und Gesellschaft(-spolitik) voneinander entkoppelt und kommen vor allem oder nur noch über das Medium von Kritik und Science Fiction in Berührung? Und schließlich: Ist der Begriff der Biopolitik überhaupt für analytisch-kritische Arbeit auf dem Gebiet der Biomedizin geeignet? Bieten sich andere Begriffe, theoretisierende Infragestellungen an?

2. Regierung der Lebensprozesse - Steuerung des Bevölkerungskörpers
Biopolitik kann jedoch nicht nur als Bezugnahme der Politik auf einen inhaltlich bestimmten Gegenstandsbereich, nämlich die Lebenswissenschaften, verstanden werden, sondern, im foucaultschen Theorierahmen, auch als spezifische Form von Politik, die historisch mit der Herausbildung des modernen Staates verbunden ist. In diesem Sinne bestimmt sich Biopolitik durch die regulierende, steuernde, verwaltende Bezugnahme der Politik auf die Lebensprozesse in der Bevölkerung, wobei jedoch der individuelle Körper durchaus als Ansatzpunkt fungieren kann. Der Biopolitik als Politikmodus unterliegt dabei die Vorstellung einer Eigenlogik natürlicher Prozesse, die sich in Bevölkerung und Ökonomie geltend machen und die zugleich von hohem staatlichen Interesse sind und politisch nutzbar gemacht werden können, durch direkten staatlichen Eingriff aber auch Schaden leiden können. So gesehen sind Biopolitik und Liberalismus zwei miteinander verbundene Seiten der Gouvernementalisie­rung des Staates und daher nicht voneinander zu trennen.

Aus aktueller Sicht wirft dieser Ansatz eine Reihe von Frage auf:
Kann man, wie Nikolas Rose, eine alte, vom Staat ausgehende, auf die Bevölkerung als Ganze bezogene und u.a. mit Mitteln der Selektion und Kontrolle operierende Biopolitik von einer neuen, individualisierten, durch Freiheit operierenden und molekularbiologisch gestützten Biopolitik unterscheiden? Oder überlagern und verbinden sich beide Formen? Oder ist es sinnvoll, die Biopolitik des 21. Jahrhunderts als eine dritte Epoche zu sehen?
Sehen wir heute eine Rückkehr der „alten“ Bevölkerungspolitik? Eine Rehabilitation demographischer Kalküle und makropolitischer Planungsfantasien?
Welche Rolle spielen Repression, Selektion und Kontrolle? Ist Biopolitik heute noch immer oder wieder mit einer differentiellen Zu- oder Aberkennung von Rechten und einer Unterteilung der Bevölkerung in verschiedene Wertkategorie verbunden? Verbinden sich „alte“ Praktiken mit neueren Wissens- oder Subjektivierungsformen und wenn, in welcher Weise?
Wie stellt sich heute die Beziehung zwischen Biopolitik und Liberalismus dar? Ist die Zunahme repressiver biopolitischer Praktiken, wenn eine solche stattfindet, im Kontext neoliberaler Politiken zu erklären oder stehen wir an der Schwelle zu einer Epoche illiberaler Biopolitik, die im Paradigma des (Neo-)Liberalismus nicht mehr erklärbar ist?  Haben wir diese womöglich schon überschritten? Wie bestimmt sich das Verhältnis von Biopolitik, Ökonomie und sozialen Lebensprozessen im 21. Jahrhundert? Gilt noch immer die Annahme von natürlichen Eigenlogiken oder ist diese längst obsolet?

3. Das „bloße Leben“ im 21. Jahrhundert
Die Verhängung des Ausnahmezustands, dessen wiederkehrende Verlängerung, Grundrechteinschränkungen durch Antiterrorgesetze, extraterritoriale Lager, indefinite detention, selektive Grenzschließungen, Verweigerung des Rechts auf einen Asylantrag greifen um sich, auch in Staaten, die sich als demokratisch verstehen. Das 21. Jahrhundert demonstriert den ungebrochenen Anspruch der Souveränität, über Innen und Außen, Leben und Tod, Recht und Rechtlosigkeit zu entscheiden. Wie passt diese Entwicklung zur These der Überlagerung der Souveränitätsmacht durch die Biomacht? Wie passt die Biopolitik ins Bild des 21. Jahrhunderts? Ist die Souveränitätsmacht, wie Foucault meinte, (noch) auf den Rahmen selektiver Lebensförderung verwiesen, um ausgeübt zu werden?  Oder hat sie sich davon emanzipiert? Wird das „bloße Leben“ primär durch die Ausübung der Souveränität, also im Medium des Juridischen produziert, wie Agamben meint, oder spielen auch sozio-ökonomische, politische und techno-wissenschaftliche Dimensionen der Biopolitik in diesen Prozess herein (man denke etwa an die Verwendung sog. „phallometrischer Tests“ zur Überprüfung der Homosexualität von Asylsuchenden)? Welche Artikulationen und Reartikulationen von Souveränität und Biopolitik können wir verzeichnen? Wie verändert sich die Ausübung von Souveränitätsmacht durch die Artikulation mit biopolitischen Praktiken? Und wiederum stellt sich die Frage, haben wir es mit Grenzfällen, Auswüchsen, Folgen und Begleiterscheinungen oder mit der Ablösung neoliberaler Biopolitik durch etwas Anderes zu tun?

4. Theoretische Zugänge jenseits der Biopolitik im Anschluss an Michel Foucault
Der Begriff der Biopolitik hat explizit einen konstruktivistischen Anspruch, denn das Zusammenspiel von Lebensproduktion, Wissen, neuen Techniken sowie Steuerung und Formung von Gesellschaft soll mit ihm in diagnostischer Weise problematisiert werden. Allerdings gelangt der Begriff auch analytisch an seine Grenzen bzw. muss für die jeweiligen Gegenstandsbereiche und Konstellationen kontextualisiert und mit Sinn versehen werden, um sein theoretisch-empirisches Potential entfalten zu können. Es stellt sich die Frage, ob andere Theorietraditionen das Programm einer Analytik der Biopolitik sinnvoll ergänzen können und welche theoretischen Ansatzsatzpunkte sich konzeptionell und in ihrer Themenwahl für eine mögliche Erweiterung und Befruchtung eignen: Lassen sich, beispielsweise mit marxistisch-materialistischen Zugängen oder mit Überlegungen im Gefolge der Kritischen Theorie, des Feminismus, des Liberalismus, des Kommunitarismus, des Vitalismus, der Systemtheorie, oder normativer, ethischer Theorien blinde Flecken eines in der Foucaultschen Tradition stehenden Begriffs der Biopolitik auffüllen?

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