Einzelne biochemische Prozesse in Zellen, Organen und ganzen Organismen in ihrer Gesamtheit zu erfassen – das ist das anspruchsvolle Ziel der Systembiologie. Um diesem Ziel näher zu kommen werden unterschiedlichste biologische Datensätze in mathematischen Modellen zusammengeführt. Dazu gehören etwa Daten zur Charakterisierung prozessrelevanter Bestandteile eines Organismus, zum zeitlichen und räumlichen Ablauf von Prozessen, oder zur Störanfälligkeit und Flexibilität eines Prozesspfades. Die solchermaßen entwickelten Computermodelle ermöglichen es, biochemische Zusammenhänge in lebenden Systemen virtuell darzustellen und Reaktionsketten unter kontrollierten Bedingungen über die Zeit zu simulieren. SystembiologInnen erhoffen sich daraus neue Erkenntnisse über genetische und physiologische Funktionszusammenhänge.
Darüber hinaus gibt es auch erste Ideen über mögliche außerwissenschaftliche Anwendungsfelder des neu generierten Wissens. Systembiologische Ansätze könnten etwa in der Produktion hochwertiger organischer Substanzen, in der Entwicklung neuer Medikamente, in der vorausschauenden medizinischen Diagnose, der Krankheitstherapie oder in toxikologischen Testverfahren Einsatz finden. Somit stellt die Systembiologie – neben der mit ihr eng verknüpften synthetischen Biologie und der Genom-Forschung – ein Forschungsgebiet der Lebenswissenschaften dar, das Grundlagenforschung mit dem Blick auf mögliche Anwendungen zu verknüpfen sucht und sich aus unterschiedlichen Fachgebieten wie der Physiologie, der Mathematik, der Informatik und der Medizin speist.
In den letzten Jahren hat die sozialwissenschaftliche ELSA-Forschung zahlreiche Aspekte der modernen Bioforschung unter die Lupe genommen; der Systembiologie wurde allerdings noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Das transnationale Forschungsprojekt „Towards a holistic conception of life? Epistemic presumptions and socio-cultural implications of systems biology” („Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Konzeption von Leben? Wissenschaftliche Vorannahmen und gesellschaftliche Implikationen der Systembiologie“) des Forschungsschwerpunktes Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt (BIOGUM) der Universität Hamburg und des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften nimmt dieses Forschungsfeld nun in den Blick.
Es widmet sich folgenden Fragestellungen:
Auf der Basis von empirischen Erhebungsmethoden wie ExpertInneninterviews oder Dokumentenanalyse werden diese Fragebereiche von den Mitgliedern des interdisziplinären Forschungsprojekts in den kommenden drei Jahren detailliert bearbeitet. Die Ergebnisse werden im Rahmen von Workshops, öffentlichen Tagungen und Berichten an die Wissenschaft, die Forschungspolitik und die Öffentlichkeit zurückgespielt. Neben einem besseren Verständnis der Entwicklung der Systembiologie und ihrer innerwissenschaftlichen Konsequenzen geht es in dem Forschungsprojekt vor allem auch darum, die Rolle der Systembiologie in der Entwicklung neuer technologischer Anwendungen und die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen besser zu verstehen.
Universität Hamburg, Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt, Forschungsgruppe Medizin
Bundesministerium für Forschung und Technologie
Deutscher Projektteil: Martin Döring, Imme Petersen, Anne Brüninghaus, Regine Kollek
Österreichischer Projektteil: Karen Kastenhofer, Helge Torgersen
The results of the German part of the project are documented in a book which provides a new perspective on the study of newly emerging technologies and systems biology:
Contextualizing Systems Biology.Presuppositions and Implications of a New Approach in Biology
Authors: Döring, M., Petersen, I., Brüninghaus, A., Kollek, R. (Springer-Verlag, in the press)
This collective monograph aims at contributing to an improved understanding of the epistemic presumptions, sociocultural implications and historically backgrounds of the newly emerging and currently expanding approach of systems biology. In doing so, it offers empirically grounded, valuable and reflexive information about a paradigmatic shift in the biosciences for a wide range of scientists working in the interdisciplinary areas of systems biology, synthetic biology, molecular biology, biology, the philosophy of science, the sociology of science and scientific knowledge, science and technology studies, technology assessment and the like. The authors of this monograph share the theoretical methodological premise that science is a culturally and socially embedded practice which characterizes our culture as a scientific one and at the same time draws its innovative potential from its socio-cultural context. This dialectic relationship lies at the heart of the current development of systems biology which is conceived as a so-called successor of ‘-omics’ research and triggered by high-throughput information technologies. At the same time a need for a holistic conceptualization of complex biological processes emerges. The title Contextualizing Systems Biology suggests that this book analyzes the development and advent of systems biology from different theoretical and methodological perspectives. We investigate a variety of contexts ranging from the analysis of cognitive contexts (such as basic theoretical concepts) to regulative contexts (policies) to the concrete application of a systems biology in the socio-scientific context of a European research project. In empirically analyzing these different and interrelated layers and dimensions of systems biology, the scope of the book goes beyond present attempts to investigate the advent of new approaches in the biological sciences as it frames and assesses systems biology from an interdisciplinary and integrated perspective.